In einem Podiumsgespräch im Haus der Religionen wurde das Phänomen „Fatwas“ für den deutschen Kontext eingeordnet. Moderiert von Wolfgang Reinbold diskutierten Haci Arslan (Universität Osnabrück), Hakki Aydin (islamische Theologie) und Jens Kutscher (Forscher zu Online-Fatwas). Ausgangspunkt war die verbreitete Fehlassoziation von „Fatwa“ mit Todesurteilen; sachlich handelt es sich um religiöse Auskünfte zu konkreten Alltagsfragen. Wer eine Frage stellt (mustafti) wendet sich an eine Autorität (Mufti), die idealerweise theologisch ausgebildet ist, die Quellen (Koran, Prophetentradition) methodisch auslegt und den Lebenskontext kennt. Fatwas sind nicht rechtsverbindlich wie Urteile, sondern Orientierung; ob man ihnen folgt, bleibt Gewissenssache. Autorität entsteht durch Ausbildung, Reputation und klassische Lehrerlaubnisse (ijaza). Historisch hatten Muftis verschiedene Funktionen: Vermittlung religiöser Inhalte, Beratung politischer Herrscher (z.B. der osmanische Scheichülislam) und gutachterliche Zuarbeit für Gerichte – was zeigt, dass Fatwas immer auch kontextbezogen waren und sind.
Im Mittelpunkt stand der heutige Boom im Netz: Neben staatlichen Fatwa-Ämtern (z.B. Dar al-Ifta in Ägypten, mehrsprachig, sehr hohe Fallzahlen) gibt es private, teils weltweit genutzte Plattformen. Seriös ist eine Seite nicht dadurch, dass sie „streng“ wirkt oder viele Belege anführt, sondern durch transparente Autor:innen, nachvollziehbare Methodik und Kontextsensibilität. Inhaltlich lassen sich zwei Strömungen unterscheiden: integrative Angebote, die muslimisches Leben im jeweiligen Rechts- und Gesellschaftsrahmen bejahen, und puristisch-salafistische Seiten, die Rückzug empfehlen. Problematisch ist weniger Meinungsvielfalt – die es im Islam traditionell gab – als vielmehr die Online-Überrepräsentation rigider Positionen, die in deutschen Gemeinden gar nicht mehrheitsfähig sind. Beispielhaft wurde eine deutschsprachige Seite genannt, die körperliche Züchtigung von Kindern zum Gebet nahelegt: Solche Antworten mögen Quellen zitieren, verfehlen aber die religiöse Methodik, weil sie den Erziehungskontext und ethische Grundprinzipien ignorieren. Genannt wurden u.a. Prinzipien der Erleichterung, der Gradualität, der Zweck-Mittel-Unterscheidung, des Nutzens für den Menschen und der Gerechtigkeit sowie die klassische Maxime, dass Normen sich mit veränderten Zeiten und Verhältnissen ändern können.
Konkrete Fatwa-Anliegen reichen von Fastenfragen (Zähneputzen, Blutabnahme, Schichtarbeit) über Ernährung (Gelatine, Alkohol in Aromen) und Berufsethik (Arbeit in Banken, Servieren von Alkohol) bis zu gesellschaftlichen Themen (Umgang mit christlichen Feiertagen, Wahlentscheidungen). Entscheidendes Qualitätskriterium ist, ob Antworten lebensnah und rechtsethisch tragfähig sind. In Deutschland existieren zudem religiöse Räte (etwa bei DITIB in Köln), die neue Fragen beraten und schriftlich beantworten. Für den Unterricht ergibt sich: Fatwas sind dialogische, kontextbezogene Beratung – keine „Schattenjustiz“. Schülerinnen und Schüler sollten lernen, Quellenzitate von methodisch guter Auslegung zu unterscheiden, Autorität kritisch zu prüfen (Wer antwortet? Mit welcher Ausbildung? Kennt die Person unseren Kontext?) und religiöse Orientierung mit Grundrechten, Kindeswohl und demokratischen Spielregeln zusammenzudenken. Als positives Narrativ wurde die Josef-Erzählung (Yusuf) hervorgehoben: gelebter Glaube in einem nichtmuslimischen Umfeld, ohne geltendes Recht zu unterlaufen. Fazit: Fatwas können das muslimische Alltagsleben in Deutschland konstruktiv begleiten, wenn sie theologisch qualifiziert, kontextsensibel und rechtsstaatlich kompatibel sind; problematische Online-Angebote verlangen Aufklärungskompetenz – und bessere, deutschsprachige Alternativen.